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"JEDER VERLIERT MAL"

Sie konkurrieren um Kunden, Projekte und Berufseinsteiger: Ein Gespräch mit den beiden Personalchefs von McKinsey und PwC.

INTERVIEW – DIE ZEIT 40/2015 – VON KATHARINA HECKENDORF UND LEONIE SEIFERT

DIE ZEIT: Die Wirtschaftsprüfung PwC verdient ihr Geld zunehmend mit Beratung – und wird für McKinsey zur Konkurrenz. Frau Raspels, haben Sie McKinsey mal bei einem Kunden ausgestochen?

Petra Raspels: Ja, haben wir.

Thomas Fritz: Ich kann mich nicht an jede unserer Projektausschreibungen erinnern.

Raspels: Es war ein großes Projekt, über das wir uns sehr gefreut haben. Man trifft sich ganz oft am Markt. Mein Gott, jeder verliert und jeder gewinnt mal, das gehört zum Spiel.

ZEIT: Wie viele Ihrer Kunden überschneiden sich?

Fritz: Mir liegt keine Kundenliste von PwC vor, und ich hoffe, dass Sie auch keine von uns haben. Wir beraten 27 von 30 Dax-Konzernen. Wir haben zum Teil dieselben Kunden.

ZEIT: Laut Handelsblatt hieß es bei den großen Beratungen über das Vorpreschen der Prüfer zuletzt: "Die treffen wir nicht einmal im Markt." Hat sich die Konkurrenz so schnell zugespitzt?

Raspels: Das würde ich an deren Stelle auch sagen. Ich muss aber zugeben, dass uns in Deutschland der Aufkauf der Strategieberatung Booz im vergangenen Jahr einen großen Schub gegeben hat.

Fritz: Aus unserer Sicht hat sich die Konkurrenz nicht verschärft. Wir wachsen.

ZEIT: Bei welchen Ausschreibungen begegnen Sie sich denn?

Raspels: Das sind eher die Strategieprojekte, die großen Digitalprojekte.

ZEIT: Ist das nicht ein Interessenkonflikt? Erst beraten Sie die Kunden bei ihrer Strategie, dann prüfen Sie ihre Bilanzen?

Raspels: Es gibt Kunden, die ganz bewusst sagen: PwC ist unser Prüfer, die laden wir gar nicht erst zu einer Ausschreibung ein. Es gibt aber Kunden, die gut finden, wenn wir sie im Rahmen der gesetzlich erlaubten Grenzen beraten, weil wir wissen, wie die Organisation tickt.

ZEIT: Auch für Ihre Mitarbeiter fischen Sie im gleichen Teich. Was machen Sie, wenn ein Bewerber ein Angebot von Ihnen beiden hat?

Fritz: Wir bieten Berufseinsteigern ein Paket an. Das ist nicht verhandelbar. Sonst wäre das unfair gegenüber einem Bewerber, der sich nicht noch zehn weitere Angebote besorgt.

ZEIT: Wie locken Sie den Absolventen bei PwC?

Raspels: Wir sagen: Wir sind in 161 Ländern aktiv. Unsere Mitarbeiter können sich immer wieder mit neuen Themen auseinandersetzen. Wir bieten viel Flexibilität hinsichtlich Arbeitszeit und Arbeitsort, und wir investieren viel in die Weiterbildung.

Raspels: "Wir suchen eine breite Basis an Leuten, nicht nur die besten"

ZEIT: Das unterscheidet sich aber wenig von dem, was Sie sagen würden, Herr Fritz.

Fritz: Wir fragen: Was will der Bewerber überhaupt, wie will er sich entwickeln? Unsere Mitarbeiter können im Ausland arbeiten, in jeder Branche, vom Gesundheitssektor bis hin zur Automobilindustrie, und in jeder Funktion. Das heißt: Egal was man machen will, man kann es machen.

ZEIT: Wie viele Leute, die ein Angebot von Ihnen bekommen, nehmen den Job tatsächlich an?

Fritz: Bei uns 90 Prozent.

Raspels: Bei uns sind es 82 Prozent.

ZEIT: Für Großkanzleien, aber auch für Beratungen ist es schwieriger geworden, die besten Leute zu finden. Merken Sie das?

Fritz: Wir haben mehr Bewerber als je zuvor und stellen in diesem Jahr mit 300 neuen Beratern so viele ein wie noch nie. Wir bekommen die besten.

Raspels: Wir suchen eine breite Basis an Leuten, nicht nur die besten. Sie sollten ein breites Set an Fähigkeiten mitbringen und im Team arbeiten können. Wir haben dieses Jahr über alle Bereiche hinweg 53.000 Bewerbungen bekommen – genug Leute finden wir. Es ist schwieriger, sie zu halten.

ZEIT: Warum?

Raspels: Wenn Sie sich die sogenannte Generation Y anschauen, finden Sie nicht das klassische Bild: Ich beginne bei einem Arbeitgeber, und dort verbringe ich eine unbestimmte Zahl von Jahren. Die Leute ziehen schneller weiter.

ZEIT: Herr Fritz, die Fluktuation bei McKinsey ist sehr hoch. Sie nennen das up or out, Karriere oder raus. Wollen Sie überhaupt Leute binden?

Fritz: Natürlich wollen wir die Besten an uns binden. Aber es gehört zu unserem Modell, dass viele auch nach einigen Jahren weiterziehen.

ZEIT: Bei Ihnen sind 80-Stunden-Wochen nicht ungewöhnlich. Warum geht das nicht anders?

Fritz: Die 80-Stunden-Woche ist Klischee. Die Themen, die wir bearbeiten, sind für unsere Klienten dringlich. Es ist nicht damit getan, von neun bis fünf zu arbeiten.

ZEIT: 62 Prozent der sogenannten Generation Y sagen in einer Studie, dass ihnen das Privatleben wichtiger ist als der Beruf. Die ignorieren Sie alle?

Fritz: Wer bei uns anfängt, dem ist es wichtiger, sich persönlich weiterzuentwickeln. Seit drei Jahren können sich unsere Mitarbeiter aber zum Beispiel acht Wochen im Jahr zusätzlichen, unbezahlten Urlaub nehmen. Das kommt bei den Berufseinsteigern gut an, viele Berater machen das.

ZEIT: Würden Ihre Leute denn auch sagen: Ich habe Überstunden gemacht, die will ich abbauen?

Fritz: Solche Leute bewerben sich wohl nicht bei uns.

ZEIT: Steht bei Ihnen eine Wochenstundenzahl im Arbeitsvertrag?

Fritz: Bei uns nicht.

Raspels: Bei uns schon.

ZEIT: Frau Raspels, was steht da?

Raspels:Berufsanfänger haben eine 40-Stunden-Woche. Für den Großteil unserer Mitarbeiter haben wir ein Jahresarbeitszeitkonto. Da werden die Überstunden aufgeschrieben, die ausbezahlt oder in Freizeit abgegolten werden können. Wir glauben an ein Modell mit dem Namen Work-Life-Choice.

Fritz: "Wir haben keine Glaskugel"

ZEIT: Work-Life-Choice statt Work-Life-Balance – das ist doch Wortklauberei.

Raspels: Ja, das können Sie ein Stück weit belächeln, aber wir sind der Meinung, dass das Wort Balance falsch ist. Letztlich geht es doch darum, was ich für mich selber gerne hätte: ob ich lieber viel arbeite oder mehr Freizeit habe.

ZEIT: Man kann bei Ihnen nach einem Acht-Stunden-Tag gehen, ohne schief angeschaut zu werden?

Raspels: Natürlich wird das akzeptiert. Wir geben Flexibilität, aber wir erwarten sie auch. Wenn man einen Auftrag hat, der unter Zeitdruck abgearbeitet werden muss, dann liefern wir auch pünktlich.

ZEIT: Herr Fritz, einige Ihrer Partner arbeiten in Teilzeit. Was heißt das, wenn die Berater bei einem Vollzeitjob zwischen 60 und 80 Stunden arbeiten?

Fritz: Wir messen die Arbeitszeit unserer Mitarbeiter nicht. Teilzeit bedeutet, dass jeder seine Zeit frei einteilen kann. Man kann sich zum Beispiel an einem oder zwei Tagen die Woche freinehmen oder immer pünktlich zum Abendessen bei den Kindern sein. Wenn das Telefon klingelt, geht man trotzdem ran, das bringt so eine Tätigkeit bei uns mit sich.

Raspels: Wir erfassen sehr wohl die Arbeitsstunden. Wir stellen dem Kunden ja die Zeit, die wir auf ihn verwenden, in Rechnung.

ZEIT: Gerade für Frauen ist die Vereinbarkeit von Beruf und Familie wichtig. Bei PwC etwa sind nur 12 Prozent Frauen unter den Partnern. Frau Raspels, wie wollen Sie die Zahl erhöhen?

Raspels: Wir stellen ungefähr fifty-fifty ein. Es schadet nicht, eine Frau an der Spitze zu haben, die andere nachzieht. Für die jungen Talente gibt es ein Mentorenprogramm namens Uptalk. Ich bin auch Mentorin. Solche Coaching-Gespräche, die man ohne großen Aufwand betreiben kann, sind kleine Stellschrauben, mit denen man viel verändert.

ZEIT: Bei McKinsey arbeiten auf keiner Hierarchieebene mehr als ein Drittel Frauen. Unter den Partnern sind es 10 Prozent. Warum?

Fritz: Wir leiden unter verschiedenen Dingen. Unter den Praktikanten ist die Hälfte weiblich. Es dauert, bis sich das nach oben durchzieht. In letzter Zeit wurden einige Kolleginnen abgeworben. Zuletzt Katrin Suder, die ins Verteidigungsministerium gewechselt ist. Da sind wir zwar stolz drauf, aber die Quote macht es nicht besser.

ZEIT: Die Digitalisierung rüttelt an vielen bestehenden Geschäftsmodellen und Prozessen. Nur ein Drittel der deutschen Unternehmen ist laut einer Studie des Instituts der deutschen Wirtschaft gut auf sie vorbereitet. Auch in Ihrer Branche verändert sich einiges. Suchen Sie gerade Informatiker?

Fritz: Digital bedeutet nicht, dass man nur Programmierer braucht. Wir brauchen Leute, die diese Veränderung verstehen.

ZEIT: Das müssen Sie erklären.

Raspels: Wir müssen Leute finden, die veränderungswillig sind. Die Lust haben, sich auf was Neues einzulassen, und diese Flexibilität im Geist und im Leben mitbringen.

Fritz: Und das sind nicht viele. Wir erleben einen war for digital talent. Die Geschwindigkeit, mit der die Digitalisierung auf uns zukommt, ist so immens, dass das Talent kaum nachwachsen kann. Das wird die große Herausforderung sein: Menschen zu finden, die das können, die sich damit auskennen.

ZEIT: Wie beraten Sie in digitalen Fragen, wenn Sie nicht in die Zukunft sehen können?

Fritz: Wir haben keine Glaskugel, aber wir sind in der Lage, aus bestehenden Trends Perspektiven abzuleiten, die in Zukunft relevant sein werden.

Raspels: Wir sind gut vernetzt und haben bei vielen Dingen den Finger am Puls der Zeit, um dann reagieren zu können. Ob es morgen knallt und ein anderes Thema aus dem Nirgendwo kommt, das wir alle nicht auf dem Schirm hatten – es wäre vermessen, zu sagen, dass das nicht passieren kann. MEHR

DER WANDEL BEGINNT AUF POST-ITS!

Wie agiles Arbeiten in Konzernen funktioniert. Viele Großunternehmen setzen verstärkt auf agile Management­methoden wie Scrum oder Kanban, um ­schneller auf Neues reagieren zu können. Doch stoßen sie damit auf ­Widerstände in den Konzernen. Ein Lagebericht.

FEATURE – t3n 51/2018 

"Das geht zu langsam.“ Dieser Satz aus dem Vorstand der ­Deutschen Bahn hat den Job des Projektmanagers Peter Schütz grundlegend verändert. Schütz war derjenige, der das ­Deutsche-Bahn-Projekt „Reisendeninformationen“ vor zwei Jahren zu einem agilen Projekt umgebaut hat. Er und die 250 Mitarbeiter stellen seitdem zum Beispiel die Bedürfnisse der Kunden in den Mittelpunkt, arbeiten in kleinen interdisziplinären Teams und ­organisieren sich in sogenannten Sprints, also alle Teams stellen jede zweite Woche die Ergebnisse ihrer Arbeit vor. Agil arbeiten heißt aber auch, dass Kompetenz zählt und nicht länger Hierarchie. Schütz, der zuvor in klassischen Managementfunktionen bei der Bahn tätig war, musste sich also einer ganz neuen Führungsrolle stellen. Heute sagt er: „Das war richtig so.“

 

Damit ist er nicht alleine. Mit agilen Prinzipien wollen immer mehr Großunternehmen auf die Herausforderungen der Digita­lisierung reagieren. „Für die Zukunft brauchen wir einfach mehr Speed“, sagt Schütz. Schnelligkeit, um im Zweifel reagieren zu können auf neue Technologien oder veränderte Kundenwünsche. Klingt sinnvoll in Zeiten, in denen die Geschäftsmodelle vieler Branchen von einem auf den anderen Tag in Bedrängnis kommen.

 

Die Agil-Offensive der großen Konzerne zieht sich durch alle Branchen: Die Bank Ing Diba hat seit Beginn des Jahres ihre gesamte Organisation in Deutschland umgestellt. Da ist die AllianzVersicherung, die Trainingscenter für agiles Arbeiten eingerichtet ­hat; der Mikrofon- und Kopfhörer-Hersteller Sennheiser, der ein Gebäude für agile Teams gebaut hat; der Reiseveranstalter Tui, dessen E-Commerce-Tochter seit Jahren agil arbeitet. Und selbst der Maschinenbauer Trumpf bereitet sich mit agilen Teams auf die Industrie 4.0 vor. Die Firmen bedienen sich damit Arbeitsweisen, die aus der Softwareentwicklung kommen und mit ­denen viele Startups arbeiten – nicht selten notgedrungen, weil es schlicht nur wenige Mitarbeiter gibt.

 

Firmen jeder Größe springen auf den Hype auf, richten Labs ein, schulen ihre Mitarbeiter in agilen Methoden wie „Scrum“ oder „Kanban“ und tapezieren Glaswände mit bunten Post-its. Das könnte sich lohnen: Die Studie „Boosting Performance ­Through Organization Design“ der Boston Consulting Group ergab, dass Firmen, die agil arbeiten, fünf Mal häufiger zu den Top-­Performern ihrer Branche gehören, sie also schneller gewachsen sind und überdurchschnittliche Margen umsetzen. Wie können ­Firmen von diesen Managementprinzipien profitieren, wie sollen sie Agilität implementieren, wo liegen die Herausforderungen?

Agile Teams brauchen Freiräume

 

Auf einem Bildschirm im Deutsche-Bahn-Büro in Frankfurt-­Niederrad steht „Das Tier (eine Kuh) wurde eingefangen“ – und darauf ist Peter Schütz stolz. Jahrzehntelang wurden Informationen wie diese (alias „Tiere am Gleis“) mit einer ­Telefonkette weitergegeben. Der sogenannte Bereichsdisponent rief den ­Mobilitätskoordinator an und so weiter. Bis zu 15 Minuten ­dauerte es, bis die Information an allen Stellen angekommen war und am Ende in die Navigationsapp eingetragen werden konnte, sodass auch die Kunden an den Bahnhöfen schließlich wussten, ob ihr Zug noch kommen wird.

 

Mit dieser Informationskaskade solle Schluss sein, befand Schütz. Ein agiles Team aus Interface-Designern, Entwicklern, Experten aus den Fachbereichen und einem Agile-Coach hat eine Art „Mitarbeiter-Chat“ programmiert. Die Telefonkette ist damit überflüssig. Weiß jemand, was mit einem Zug los ist, trägt er es in den Chat ein. Den können alle Mitarbeiter einsehen, sie wissen dann direkt, warum ein Zug unvorhergesehen stoppen musste. „Und der Ansager am Bahnhof kann die Information für seine Durchsage nutzen, damit hat er die Information deutlich schneller“, sagt Hanna Jage, die das Team bei der Bahn betreut. Nur: Mit dem Programmieren alleine war die Arbeit nicht getan.

Auch die Zielgruppe, die anderen Bahn-Mitarbeiter an den Außenposten, mussten von der neuen Arbeitsweise überzeugt werden. „Wir begeistern mit Expertise“, das ist eine von sieben Regeln, die bei den Reisendeninformationen auf einem Plakat am Büroeingang steht. Schütz sagt: „Die Regel ist mir besonders wichtig.“ Wer in einem Konzern wie der Deutschen Bahn agil arbeiten wolle, müsse vermitteln lernen. „Die Leute, die mit dem neuen Chat-Tool arbeiten sollen, müssen wir ins Boot holen“, erzählt der 49-Jährige, „sonst bringt das gar nichts“. Die Teams sehen die Bahn-Mitarbeiter, die ihre Technologien nutzen, als Kunden. Sie fragen sie: Was braucht ihr? Und: Wie können wir das erfüllen?

 

Schütz kennt die Welt des Konzerns und weiß um seine ­Widerstände. Er hat Wirtschaftsingenieurwesen studiert und arbeitet seit fast 20 Jahren bei der Bahn. Mit seinem anthrazitfarbenen Anzug und dem weißen Hemd wirkt er unangreifbar, als könnte er auch auf dem Finanzamt arbeiten. Wenn er spricht, bröckelt dieses Bild. Schütz ist der, der seinen Vorgesetzten im Konzern erzählen muss, an was seine Teams gerade arbeiten. Er ist aber auch der, der ihnen sagen muss, wenn ihre Ziele nicht mit den Prinzipien des agilen Arbeitens vereinbar sind – oder wenn sie schlicht zu ambitioniert sind.

 

Wer Schütz und seine Mitarbeiter besucht, versteht, dass die Agil-Offensiven der Großunternehmen oft Geschichten vom Pendeln zwischen zwei Welten sind. Die Maxime heißt: „Wendiger werden“. Die Herausforderung ist, dabei die Schnittstellen zum Rest der Organisation nicht zu zerstören.

 

Einer, der weiß, was die Firmen mit den agilen Agenden bewegt und welche Herausforderungen es gibt, ist Stephan Fischer. Er ist Professor für Personalmanagement und Organisationsberatung an der Hochschule Pforzheim und hat untersucht, wie Firmen mittels agilen Prinzipien schneller und flexibler werden wollen. Einige Unternehmen gründen eine neue Organisation, etwa in Form von Labs. Der Leitsatz: „Dort können sich die Neuen weit weg von der Zentrale agil austoben und bringen den klassischen Mitarbeiter nicht gegen sich auf.“ Andere gründen Tochterunternehmen oder schicken ihre Mitarbeiter in agile Projektgruppen in andere Firmen, damit sie dort lernen, wie Scrumboards und ­Kanban funktionieren. „Bei all diesen Modellen gibt es das gleiche Problem“, sagt Fischer, „die agilen Teams brauchen viele Freiräume für ihre Projekte. Leider müssen sie sich meist früher oder später wieder den Strukturen des Mutterkonzerns unterwerfen.“

Das Loslassen fällt vielen schwer

Eine Herausforderung für die Menschen an den Schnittstellen, eine Herausforderung für Leute wie Peter Schütz. In vielen Organisationen würden diese immer noch nach dem individuellen Beitrag zum Endergebnis beurteilt, sagt Wissenschaftler Fischer, etwas, das dem Arbeiten mit möglichst viel Eigenverantwortung der Mitarbeiter und ohne ein klar definiertes Ziel widerspricht. Am Anfang ist nicht klar, wo die Reise hingehen wird – und die Führungskräfte fürchten um ihre Prämien, Boni und die Macht. Das weiß Fischer aus Interviews mit Firmenvertretern. „Dabei wollen diese Leute ihren Mitarbeitern die Freiheit geben, das zu machen, was sie für richtig halten.Aber: Das Loslassen fällt vielen schwer.“

 

Schütz kann das aus eigener Erfahrung bestätigen: „Auch ich muss viel lernen, man muss sein ganzes Führungsverhalten ändern – und zum Beispiel akzeptieren, dass Fehler passieren können.“ Das heißt auch, den Mitarbeitern beizubringen, dass Scheitern nicht schlimm ist – und man einen neuen Weg einschlagen kann, um ein Problem zu lösen. So ging es einem der zehn agilen Teams. Das kümmerte sich darum, dass die Wagenreihung der Züge am Bahnhof richtig angezeigt wird. Die kann nämlich vom Standard abweichen, wenn der Zug etwa wegen einer Störung oder einer Sperrung eine andere Strecke wählt und anders herum in den Bahnhof einfährt, am Kölner Hauptbahnhof etwa statt über die Deutzer Brücke beim Dom über die Südbrücke. In den ersten Wochen setzte das Team darauf, dass die Zugführer melden sollten, wenn sie das tun. Das habe nicht funktioniert, erzählt Schütz, manchmal schlichtweg, weil die Mitarbeiter es vergaßen.

 

Diese Erkenntnis bedeutete für das Team: von vorne anfangen. Sie installierten stattdessen RFID-Chips an den Gleisen, insgesamt 100 Stück in ganz Deutschland. So wird das System automatisch mit der Info gefüttert, dass der Zug einen alternativen Weg genommen hat. Dieser Umweg bedeutete aber auch, dass das Projekt länger dauerte als gedacht – und Schütz das dem Vorstand erklären musste.

 

Stephan Fischer von der Hochschule Pforzheim sieht noch eine andere Herausforderung für Konzerne, die über die Jahre träge geworden sind und viel Bürokratie aufgebaut haben. Konzerne könnten nur agil werden, wenn die Mitarbeiter mitzögen. Das dürfe oftmals ein Kraftakt werden, sagt Fischer: „Die Leute, die mal im Konzern angefangen haben, sind nicht automatisch die, die Eigenverantwortung sehr schätzen.“

Agil arbeiten ist unbequem – so sind Widerstände in den Belegschaften vorprogrammiert. „Nicht alle Leute wollen befreit werden“, sagt Fischer. Etwa weil die ehemaligen Chefs Kontrolle abgeben müssten und das vielen schwerfalle. Manchmal verlören sie sogar ihre Stellung, weil ein jüngerer Kollege besser sei. Agil arbeiten sei unbequem, weil es heiße, sich und den Kollegen im Zweifel früh einzugestehen, dass etwas nicht funktioniere. Es heiße mitunter auch, dass man am Tag vor Ende eines Sprints länger im Büro bleiben müsse, weil noch nicht alles fertig sei.

 

Darum wissen auch die Firmen und wollen ihre Mitarbeiter trainieren und motivieren. Bei den Reisendeninformationen ist in jedem Team ein externer Agile Coach dabei. Der soll den Mitarbeitern die agilen Methoden nahebringen, um schließlich ein agiles Mindset aufzubauen. Heißt zum Beispiel: Veränderungs­bereitschaft zeigen, mutig sein, sich gegenseitig vertrauen, Wissen ­teilen und auch die Bereitschaft fördern, Fehler zu machen.

Trainingscenter für agiles Arbeiten

 

Bei der Allianz-Versicherung hat man gleich zwei Trainingscenter für die agilen Methoden in München und in Stuttgart eingerichtet. Die Wände bestehen aus beschreibbaren Tafeln, die Arbeitsergebnisse der agilen Teams werden auf bunten Post-its überall an den Wänden aufgeklebt, die Teammitglieder sitzen sich an Tischinseln gegenüber. Telefone gibt es nur draußen in kleinen Sprachkabinen. Wer in einem der beiden Labs der Versicherung an einem Projekt mitarbeiten soll, kennt sich zum Beispiel mit Lebens- oder Autoversicherungen aus, hat aber noch nie agil gearbeitet und wird dort trainiert.

 

Im ATC, dem Agile Training Center, bekommen die Mitarbeiter dann Crashkurse: Wie können kontinuierliches Lernen und Wissensaustausch feste Bestandteile im Alltag werden? Wie funktioniert Projektmanagement fernab des sogenannten „Wasserfall“-Prinzips mit Anfordungskatalog, Entwurf, Überarbeitung bis hin zur Inbetriebnahme? Wie werden Produkte entworfen, die den Mindestanforderungen entsprechen, und erst nach und nach weiterentwickelt werden – je nach Nutzerfeedback? Wie beziehe ich den Kunden in meine Arbeit ein? „Unsere Mitarbeiter in den ATCs lernen, ihren Arbeitsalltag agil zu gestalten. Gleichzeitig bauen sie Know-how auf und aus und tragen die neue Methodik in das gesamte Unternehmen“, sagt Daniel Poelchau, Leiter der Digital Factory der Allianz Deutschland.

„Agilität erfordert ein höheres Engagement und ein höheres Energieniveau”

Die Herausforderung für die Konzerne ist es, die Mitarbeiter mitzunehmen, sie von der Vision zu begeistern – und sich im Zweifel auch von denjenigen zu trennen, die diesen Weg nicht mitgehen wollen. „Agilität erfordert ein höheres Engagement und ein höheres Energieniveau”, sagt Fabrice Roghé, Experte für agiles Arbeiten bei der Boston Consulting Group, „wer Dienst nach Vorschrift machen will, wird in diesen Strukturen nicht glücklich.“ Je radikaler Firmen den Weg zur Agilität umsetzen, desto mehr tut es also weh.

 

So beschränkt sich der Wandel in vielen Organisationen bislang auf einzelne Abteilungen oder Projekte. Anders läuft es bei der Ing Diba. Der Mutterkonzern der Bank, die niederländische Ing Groep, hat vor drei Jahren die Wände in den Büros eingerissen und die festen Schreibtische jedes Mitarbeiters abgeschafft, und das bis rauf zur Geschäftsführung. Seit Beginn des Jahres setzt auch die deutsche Ing Diba auf Design Thinking, ein Konzept zur kreativen Problemlösung, Scrum und die Methoden des Lean Startups, bei dem alle Prozesse so schlank wie möglich gehalten werden.

 

Durch den organisatorischen Umbau hofft die Bank, in Zukunft schneller auf technologische Entwicklungen reagieren und besser auf Kundenbedürfnisse eingehen zu können – was der Ing Diba einen Wettbewerbsvorteil gegenüber der Konkurrenz, deren Produkte und Preise den eigenen sehr ähnlich sind, verschaffen soll. Die größte Schwierigkeit bei der Einführung des neuen Organisationsmodells sei es aber nicht gewesen, die Methoden zu schulen und die Büros umzubauen, sondern den Wandel in den Köpfen der Mitarbeiter zu schaffen, erklärte Zeljko Kaurin, Mitglied der Geschäftsführung, bei seinem Vortrag auf der Hub Conference in Berlin im November des vergangenen Jahres. „Der Umbau war nicht leicht und er hat auch nicht von Anfang an funktioniert“, so das Fazit Kaurins.

 

Wenn der Wandel so schwer ist, wieso tun sich so große Unternehmen wie die Ing Diba, die Allianz oder die Deutsche Bahn das dennoch an? Unternehmen, deren Aktienkurse sich im vergangenen Jahr durchweg positiv entwickelt haben? „Die Firmen, die jetzt auf die agile Arbeitsweise setzen, eint die Angst, verdrängt zu werden“, sagt Stephan Fischer. Bei der Ing Diba ist es die Furcht vor der Konkurrenz, dazu gehören die großen Banken, aber auch die Fintechs werden für das Unternehmen immer bedrohlicher. Zeljko Kaurin bemüht dazu in seinem Vortrag das Bild eines Elefanten, der ein Rennen gegen Windhunde gewinnen will. „Wir wollen den Elefanten so trainieren, dass er so schnell wird wie ein Windhund“, sagt Kaurin.

 

Bei der Deutschen Bahn ist die Gefahr durch die Konkurrenz abstrakter: Die Mobilität der Zukunft wird durch einen Mix an Verkehrsmitteln bestimmt, da konkurrieren Billigflieger mit Fernbusunternehmen, Autovermietern, Carsharinganbietern und wahrscheinlich sogar selbstfahrenden Bussen. In diesem Markt entscheidet, abgesehen vom Preis, eben auch die Bequemlichkeit für den Kunden – und an der muss auch ein marktbeherrschendes Unternehmen wie die Deutsche Bahn arbeiten.

 

Kann das funktionieren? Kann ein Elefant überhaupt so schnell werden wie ein Windhund? Antworten darauf hat keiner. „Das ist ein Experiment“, sagt auch Peter Schütz von der ­Deutschen Bahn, „wir müssen uns ständig weiterentwickeln und daran wachsen.“ „Agil bleiben“ heißt die Devise. MEHR

ANGRIFF AUF DIE GROßEN: STARTUPS DIGITALISIEREN DIE VERSICHERUNGSBRANCHE

Für die großen Versicherungen brechen mit der Digitalisierung schwere ­Zeiten an. Neue Technologien verändern den traditionellen Verkauf von Policen. Startups greifen mit schlanken und kreativen Lösungen an. Wie gehen die Brachenriesen damit um?

FEATURE – t3n 53/2018 

Hinter einer Glastür im ehemaligen Postamt von Berlin-Mitte beginnt das Reich von Johannes Rath: Hier, zwischen alten Perserteppichen vom Flohmarkt und teuren Vintage-Schreibtisch­lampen hockt der ­blonde Zweimetermann mit dem angedeuteten Undercut an einem großen runden Holztisch – und erzählt mit ausladenden Gesten davon, wie er sich die Zukunft der Signal Iduna vorstellt.

 

Als Chief Digital Officer soll der 34-Jährige den 100 Jahre alten Versicherungskonzern fit für die Zukunft machen. Kein leichter Job, denn die Zeiten für Versicherungen sind rauer geworden: Mit den niedrigen Leitzinsen lässt sich das Kapital nicht mehr so leicht erhalten. Der Markt ist gesättigt, die Kunden in Deutschland und anderen westlichen Ländern ­haben die wichtigsten Versicherungen schon abgeschlossen. Und nun machen den klassischen Versicherern auch noch die Insurtechs ­Konkurrenz. Also werden ­Zukunfts- und Strategieprogramme geschmiedet, Sparpläne und Stellenkürzungen verabschiedet. Die Signal Iduna zum Beispiel will Kosten von 140 Millionen Euro sparen und rund 1.400 Stellen kürzen, bei der Axa Versicherung sollen zehn Prozent der Vollzeitstellen eingespart werden, und auch Allianz oder Zurich vermeldeten in den vergangenen Monaten Personalabbau. „Für die Versicherungen ist der Wandel so schwer, weil ihr Kerngeschäft traditionell darin besteht, Risiken zu vermeiden und zu managen – und jetzt sollen und müssen sie etwas wagen und ­Risiken eingehen“, sagt Michaele Völler. Sie ist Professorin am Institut für Versicherungswesen und leitet die Forschungsstelle für den Versicherungsmarkt an der TH Köln.

Vielfältige Altlasten

Neues wagen, das soll auch CDO Johannes Rath für Signal Iduna in den Open ­Studios in Berlin. Und genau genommen ist er damit ziemlich spät dran: Das Studio eröffnete im Herbst des vergangenen Jahres – als Allianz, Ergo und andere ihre Labs und Hubs längst gegründet hatten. „Hätten wir nach der Eröffnung nicht unter Hochdruck gearbeitet, hätten wir etwa für unsere Cyberschutzlösung den Markt­eintritt verpasst“, sagt Rath.

Wie kann man eine Riesenorganisation mit Tausenden Mitarbeitern in die Zukunft bringen? Welche Altlasten muss man loswerden, um sich gegen die Insurtechs durchzusetzen? ­Welche Produkte sind in Zukunft überhaupt noch gefragt? Das sind ­Fragen, die Johannes Rath seither beschäftigen.

 

Dass die Welt nicht mehr ist, wie sie war, das soll die Installation am Eingang der Open Studios verdeutlichen: Hier hängen unter anderem Turnschuhe, die mit dem Smartphone verbunden ­werden können, ein selbstfahrender Roboter und ein intelligentes Türschloss. „Die ganze Welt besteht mittlerweile aus Signalen“, beschreibt es Johannes Rath. Alles, was er und sein Team machen, soll diese Vernetzung berücksichtigen. Denn die Technologie verändert die Kundenbedürfnisse: Eine gute Versicherung, das bedeutete für Kunden früher schlichtweg, dass sie zahlt, wenn ein Schaden entstanden ist – wenn der Keller vollgelaufen ist oder man den Autospiegel des Nachbarn abgefahren hat. Das seitenlange Kleingedruckte schien niemanden ernsthaft abzuhalten, es gab ja keine Alternativen. Heute aber ist Absicherung alleine nicht entscheidend, weiß ­Michaele Völler. „Der Kunde ist verwöhnt, eine tolle Deckung allein lockt kaum einen“, sagt sie. Stattdessen soll es einfach sein: „Die Erfahrungen, die Kunden in der digitalen Welt mit pfiffigen ­Anbietern und den digitalen Giganten machen, prägen auch ihre Erwartungen an etablierte Versicherungsunternehmen.“ ­Flexiblere Produkte und besserer Service. Das ist heute wichtig – ­quasi eine „Amazonisierung“ der Versicherungswelt.

 

Um dem Bedarf der Kunden nachzukommen, reicht es aber nicht, eine Browseranwendung für die Schadensmeldung zu programmieren, wenn alle anderen Prozesse so bleiben, wie sie sind. Die stabilen Einnahmen über viele Jahre haben die ­Branche ­träge gemacht: ­Ineffiziente Prozesse wurden ­beibehalten, zu viele Mitarbeiter weiter beschäftigt, alte Computersysteme weiter ­genutzt und in starren Hierarchien und wenig kundenorientiert ge­arbeitet. Michaele Völler zitiert den ehemaligen ­Telefonica-Chef und heutigen Eurowings-CEO Thorsten Dirks: „Wenn Sie einen Scheißprozess haben und den digitalisieren, dann ­haben Sie einen scheiß digitalen Prozess.“

 

Gründe für solche „scheiß digitalen Prozesse“ lassen sich auch bei den Versicherungen ausmachen: Teilweise liegen die immensen ­Daten der Versicherer auf Großrechnern aus den Siebziger Jahren – und können nur schwer verarbeitet oder gar zusammengeführt werden. Außerdem müssen Versicherungen eine Heerschar von Vermittlern unterhalten, die bis zu einem Drittel Provision fordern. Bei der Signal Iduna sind das laut Geschäftsbericht 27.435 haupt- und ­nebenberufliche Vermittler, zusätzlich zu den über 7.000 Mitarbeitern. Gerade die jüngeren Zielgruppen erreicht man aber besser im Netz. Vertreter aber kann man nicht von heute auf morgen rauswerfen. Die Konzerne stehen vor Konflikten, die sich nur schwer lösen lassen.

Johannes Rath steht vor der schwierigen Aufgabe, seine Zukunftspläne umzusetzen, auch wenn es an einigen Stellen wehtut. Dabei muss er die Leute aus den Hauptsitzen in Dortmund und Hamburg mitnehmen. So trägt er zum Beispiel in Berlin Jeansjacke und Turnschuhe, in Dortmund Anzug. Er weiß, was nötig ist: Er war einer der Ersten, der erkannt hat, dass sich die Versicherungsbranche wandeln muss – und gründete vor sieben Jahren Sijox als Tochter der Signal Iduna. „Ich dachte, alles um uns herum wird digital, und wir verkaufen unsere Versicherungen immer noch mit einer Ledermappe unterm Arm.“ Seither verkaufen die Vertreter die Pakete, die speziell für die junge Zielgruppe entwickelt wurden, nicht mehr auf Papier, sondern mit dem iPad. Wer sich darüber informieren will, kann mit ihnen chatten oder skypen. Im Geschäftsbericht aus dem Jahr 2014 heißt es: „Mit unserer jungen Marke Sijox sind wir schon im digitalen Zeitalter angekommen.“

Angekommen, das weiß man heute, ist man damit noch nicht. Denn die Kultur in den Unternehmen muss sich wandeln. Starre Hie­rarchien und Prozesse müssen abgeschafft werden. In vielen Versicherungsgesellschaften fehle es an einer „echten Innovationskultur“, konstatiert die Lünendonk-Studie „Versicherer in der Zeitfalle“ 2018, für die 104 Führungskräfte aus Versicherungen im deutschsprachigen Raum befragt wurden. 38 Prozent von ihnen bemängelten eine fehlende Innovationskultur in ihren Unternehmen, um neue Ideen schnell zur Marktreife zu bringen und sich so Wettbewerbsvorteile zu sichern, heißt es dort.

Deshalb lernen die Mitarbeiter aus den Hauptsitzen der Signal Iduna in den Open Studios in Berlin agile Methoden kennen und diskutieren, wie sich Führung verändern muss. Mehr als 1.300 Menschen seien schon zu Besuch gewesen, erzählt Rath. Wie genau die Zukunft der Versicherung aussehen soll, das weiß hier keiner so genau. Aber: Sie probieren es jetzt zumindest. „Wir liefern hier“ – mehrmals sagt Johannes Rath diesen Satz. Die Betonung ein Hinweis darauf, dass noch längst nicht jeder im Konzern an den Erfolg der neuen Maßnahmen glaubt.

Ein „Big Player“ mit 100 ­Mitarbeitern?

Da hat es die digitale Konkurrenz einfacher. Das zeigt etwa das ­Berliner Insurtech Coya. Gründer Andrew Shaw sagt: „Unsere Kunden mögen es nicht, wenn jemand Fremdes bei ihnen auf dem Sofa sitzt.“ Außerdem würden Versicherungen beim Kunden häufig Frust und Enttäuschung wecken, erzählt der 36-Jährige. Diese Erkenntnis hat er im ­Urlaub auf Bali gewonnen: Eine Tropenkrankheit hatte ihn erwischt, die Nummer seiner Auslands­krankenversicherung aber war weit weg, in „irgendeinem ­Ordner“ in Deutschland. „Ohne diese Nummer wollte man mir nicht helfen. Ich lag fiebrig im Bett und konnte nicht fassen, wie die mit mir ­umgegangen sind, obwohl sie seit Jahren Geld von mir bekamen.“ Er nennt das ein „Trust Paradox“.

Mit Coya hat er daraufhin eines der kapitalschwersten Insurtechs Deutschlands gegründet. Schon in der ersten Finanzierungsrunde haben die Berliner 30 Millionen US-Dollar sammeln können. Hinter einer alten Backsteinfassade in Kreuzberg arbeiten Shaw und sein rund 60-köpfiges Team. Unter grellem Neonlicht stehen weiße Schreib­tische mit großen schwarzen Bildschirmen dicht an dicht. Der strahlende Sonnenschein dieses Sommertages findet keinen Weg nach innen. Eine Armlänge vom Fenster entfernt beginnt schon die nächste Hausfassade. Wer hier arbeitet, tut es nicht, weil das Büro so schön ist. Es ist Andrew Shaw, der hier Techies und alte Hasen aus dem Versicherungsgeschäft um sich geschart hat. Dunkle kurze Haare, gelbes Gummiband am Arm. Blaues T-Shirt, das an Fußballtrikots aus den Siebzigern erinnert. Seine Mitarbeiter sagen über ihn: „Manchmal hat er zu viele Ideen. Er ist ein Getriebener.“ Und auch etwas größenwahnsinnig wirkt er: Um zu den größten deutschen Versicherungen zu gehören, brauche er in Zukunft vielleicht 100 Leute, schätzt Shaw. Diese Einschätzung findet Michaele Völler „ambitioniert“: Das sei selbst dann schwierig, wenn man wenige Kunden mit großen Volumen habe. Allein wegen der Berichtspflichten und der vielen Anforderungen seitens der Aufsicht, sagt sie.

Vielleicht frech, vielleicht hat Shaw aber auch genau die Spur Selbstbewusstsein, die man braucht, wenn man eine Versicherung gründen will. Schließlich gibt es kaum einen Markt mit so hohen Markteintrittsbarrieren wie die Versicherungs­branche. An einer Wand am Büroeingang hängt der ganze Stolz der kleinen Firma, die vor wenigen Tagen erhaltene Lizenz der deutschen Finanzaufsicht. Neun Monate hat das Team daran gearbeitet: „Durchaus ein Kraftakt für eine junge Firma“, sagt Shaw, der um zehn Uhr morgens übermüdet seine Club Mate schlürft. Mit der Lizenz haben sie den größten Vorteil eingespielt, den die klassischen Versicherer in Deutschland noch haben, das Okay der Behörden. Jetzt soll es schnell gehen, in wenigen Wochen soll das erste Produkt fertig sein.

Eine Hausratversicherung soll den Anfang machen. Allerdings nicht irgendeine: Sie soll an den Lebensstil der jungen Generation angepasst sein. Individuell, einfach verständlich, keine Fallen,­ jederzeit kündbar, verhältnismäßig günstig, so verspricht es Shaw. „Live more“ lautet der Slogan. „Bei uns kannst du dein Fahrrad oder dein Snowboard mit einem Knopfdruck schnell versichern, solange du es nutzt.“ Das wirklich Besondere sieht man als Kunde aber nicht: Eine künstliche Intelligenz soll die Kunden kennenlernen und mit den gesammelten Daten maßgeschneiderte Produkte entwickeln und diese vorschlagen. Das viele Geld für die Versicherungsvertreter können sie sich bei Coya also sparen, zumindest solange die Kundenbedürfnisse automatisiert verarbeitet werden können.

Diese Versicherung weist den Weg in die Zukunft, glaubt Shaw. Nah am Kunden – einfach und flexibel. Aber der Startup-­Gründer täuscht sich, wenn er meint, das würden die Etablierten nicht versuchen. Auch Menschen wie Johannes Rath ist klar, dass sie Kunden viel mehr entgegenkommen müssen als früher. Versicherungen seien eben kein „Love-Product“, sagt er.

Auch die Etablierten spielen mit

 

Er und sein Team haben eine Versicherung speziell für BVB-Fans entwickelt: Die „Versicherung 09“ ist eine Hausrat- und Haftpflichtversicherung für Fußballfans mit Gamification-Elementen. Je mehr Tore in der Saison fallen, desto billiger wird die Police. Wer den Schaden selbst beseitigt, wird dafür mit einem Kasten Bier und dem entsprechenden Stundenlohn vergütet. Geht ein Trikot oder der ­gelbschwarze Schal kaputt, wird der Betrag erstattet. Wer lange schadenfrei bleibt, kriegt Geld zurück. So nur einige der Ideen. „Es geht darum, Versicherung erlebbarer zu machen“, sagt Johannes Rath. „Der Kunde muss mehr wahrnehmen als nur den Rechnungsversand.“ Insofern sei das genau der richtige Ansatz, findet auch Michaele Völler von der TH Köln. „Mehr Interaktionspunkte und einen erlebbaren Mehrwert schaffen“, so nennt sie das.

 

„Die Startups denken stark vom Kunden her“, sagt Völler. ­Daran arbeiten auch die Etablierten: Die Kölner Axa etwa mit der App Wayguard, die per GPS einen sicheren Heimweg garantieren will. Wer allein unterwegs ist, schaltet die App ein und meldet sich dort wieder, wenn er sicher zu Hause angekommen ist. Im Notfall können Nutzer schnell einen Hilferuf absetzen und direkt geortet werden. Die Talanx-­Versicherung bietet bei der Tochter HDI eine Autoversicherung an, bei der das Auto mit einem automatischen Notrufsystem ausgestattet ist und zusätzlich die vorausschauende Fahrweise des Kunden überwacht, die dann gegebenenfalls mit Amazon- oder Tankgutscheinen belohnt wird.

 

Doch auch Firmenkunden und andere Versicherer werden anspruchsvoller. So hat die Rückversicherung Munich Re, die die Risiken der herkömmlichen Versicherungen absichert, im März die sogenannte „Data Hunting Unit“ eingerichtet. Das Team um Physikerin Margit Hoffmann ist auf der Jagd nach jenen Daten, die helfen, Risiken besser abzuschätzen, beispielsweise für die Wahrscheinlichkeit eines Wasserschadens in einer bestimmten Region. Hoffmanns Einheit führt etwa Daten über das Alter der Gebäude und der Wasserqualität zusammen und schaut, ob sich damit mögliche Wasserschäden besser kalkulieren lassen, erzählt sie. Die Schwierigkeit: „Es gibt eine Million Blätter in dem Wald da draußen, wir müssen erst einmal den richtigen Baum mit den relevanten Informationen finden“, sagt Hoffmann. Dabei geht es nicht nur darum, das Risiko für sich selbst besser zu berechnen, sondern auch darum, den Kunden der Rückversicherung, also den Erstversicherern, einen Service zu bieten, sodass diese ihre Policen besser berechnen können.

 

Auch für die Kunden aus der Industrie hat die Versicherung schon eine Idee: In Kooperation mit dem Robotikhersteller Kuka möchte die Munich Re Industriekunden dabei unterstützen, ihre Maschinen so mit Sensoren nachzurüsten, dass sich lang andauernde Betriebsunterbrechungen frühzeitig erkennen lassen.Damit könne das reine Versicherungsprodukt sogar günstiger werden, weil tage- oder wochenlange Produktionsausfälle vermieden werden, so die Idee. Letztlich zerstört die Munich Re damit sogar ihr eigenes Geschäftsmodell: „Wenn das funktioniert, verdienen wir auch weniger mit reinen Policen, das ist uns bewusst“, sagt ein Sprecher der Munich Re. Allerdings wandele sich die Branche ohnehin – und entweder man mache mit oder man verliere früher oder später den Anschluss, so ist die Logik. Die Munich Re wolle sich deshalb zum Anbieter von Dienstleistungen wandeln.

 

Die neuen Technologie macht Teile des Geschäftsmodells der ­Versicherungen obsolet. Auch die Blockchain-Technologie hat dieses Potenzial: Die Kölner Axa hat eine voll automatische Versicherungspolice namens „Fizzy“ per Ethereum-Blockchain programmiert, die ihre Kunden gegen Flugverspätungen absichern soll. Der Kauf der Flug­tickets und auch die Schadensmeldung werden im Falle einer Verspätung über die Blockchain ­abgewickelt. Auch andere Branchenführer arbeiten mit der Technologie, etwa gemeinsam in der ­B3i-Initiative, die 13 Versicherungen gegründet haben, darunter die Allianz, ­Generali und Munich Re.

n der ganzen Branche werden Kooperationen geschlossen, die sowohl Prozesse vereinfachen als auch völlig neue Geschäftsbereiche erschließen sollen. B3i ist eine davon, eine weitere das Insurlab Köln, in dem Axa, Barmenia oder die DEVK zusammenarbeiten. Dabei wird nicht nur mit ehemaligen Konkurrenten auf dem eigenen Gebiet gemeinsame Sache gemacht, sondern auch mit branchenfremden Unternehmen, wie das Beispiel Kuka zeigt. Und natürlich massenhaft mit Startups. Denn häufig sind sie die Vorreiter bei Big Data oder künstlicher Intelligenz. Fast alle klassischen Versicherungen kooperieren mit jungen ­Firmen, um sich den Zugang zu diesen Technologien zu sichern.

 

Noch geht aber Weniges über Ausprobieren hinaus: Laut einer aktuellen Umfrage der Beratung PwC ist die Technologie bei 68 Prozent der befragten Unternehmen „noch nicht Teil der strategischen Planung“. Nur jeder fünfte Versicherer geht davon aus, dass die Blockchain den Versicherungmarkt in fünf Jahren „stark“ verändern wird.

Ort der Begegnung und Kooperationen

 

Auch Johannes Rath von der Signal Iduna hofft darauf: ­„Signals Open Studios sollen ein Ort der Begegnung sein“, sagt der 34-­Jährige. Auf Veranstaltungen mischen sich hier Leute mit ­Anzug mit Berliner ­Hipstern und ewig jungen Sommer­schalträgern. Startups können sich hier für 290 Euro pro Monat und Schreibtisch einmieten. Auch der hauseigene Kapitalgeber ­Signals VC sitzt hier: Ein kleines Team investiert früh in junge Unternehmen, die sich mit künstlicher Intelligenz, Automatisierung oder Big Data beschäftigen. Eines der ersten Investments etwa war Sales Hero, ein Berliner Startup, das Verkaufsprozesse mit einer künstlichen Intelligenz effizienter machen will.

 

Ob beim informellen Bier, beim Kaffee holen oder mit kapitalunterstützten Partnerschaften mit Startups: Hier sollen Synergien entstehen. Etwa, indem neue Zielgruppen erschlossen oder alte Zielgruppen neu kennengelernt werden. Zum Beispiel das Lebensmittelhandwerk: Mit dem Startup How I like, das hier Schreibtische angemietet hat und smarte Kühlschränke mit Lebensmitteln fürs Büro vertreibt, habe Signals den Finger am Puls der Zeit, sagt Rath: „Wir ­sehen, was die Branche bewegt und welche Produkte wir entwickeln sollten.“

 

Auch Andrew Shaw von Coya beobachtet die Digitalisierungsvorhaben der Großen genau. Einige spannende Projekte gebe es, gibt er zu, ein gewisses Amüsement kann er allerdings nicht verbergen: „Es wird in Abteilungen und Hierarchien gedacht. Es werden Regeln befolgt, die man in einem Startup nicht kennt.“ Und: „Man entwickelt Dinge, die sind schon outdatet, wenn sie live sind.“ So lauten seine kurzen Einschätzungen. Den jungen Insurtechs wiederum mangele es häufig an der Versicherungskompetenz an sich, schreibt das Beratungsunternehmen Oliver Wymann in seinem „Insurtechradar 2017“. Viele würden deshalb mit Versicherern und Rückversicherern kooperieren, sich so Know-how und Kapital besorgen. Schließlich haben die klassischen Versicherer bei der Kalkulation der Policen oder bei der Einhaltung der Behördenauflagen jahrzehntelange Erfahrung. Andrew Shaw aber will dennoch vorerst unabhängig bleiben: „Wir haben genug Wissen intern“, sagt er. Sogar einen ehemaligen Manager der Allianz und einen Anwalt hat er ins Team geholt.

 

Und doch könnte künftig für beide Seiten ein Zugewinn in der Zusammenarbeit liegen. Selbst wenn das Ergebnis noch niemandem klar vor Augen steht, gilt es, sich jetzt auf den Weg zu machen und etwas zu wagen. Am Eingang zum Signals-Studio in Berlin Mitte steht Jörg, ein Roboter aus Pappe mit viereckigen Augen und Füßen aus Mülleimern. Er weist den Weg durch ein verrauchtes Treppenhaus in den zweiten Stock: „This way to the future“, steht auf seiner linken Hand. Auf der anderen „Don’t look back“. Jetzt müssen die Versicherer Letzteres hinkriegen. MEHR

WAS MAN AN DER UNI NICHT LERNT

Welche Fähigkeiten sind beim Berufseinstieg wichtig? Worauf man sich vorbereiten kann und woran man eine gute Traineestelle erkennt

INTERVIEW – ZEIT CAMPUS 2/2017

ZEIT Campus: Man kann Kunst studieren und später Apps in einem Start-up programmieren: Berufswege scheinen heute weniger geradlinig. Kann man sich überhaupt noch richtig auf den Berufseinstieg vorbereiten?

 

Caterine Schwierz: Jeder sollte sich möglichst früh fragen: Welche Tätigkeit macht mir Freude? Was kann ich besonders gut? Oder: In welchen Situationen werde ich gefragt, ob ich eine Aufgabe übernehmen kann? Welche Werte sind mir wichtig? Wer sich selbst gut einschätzen kann, ist gut vorbereitet. Unternehmen legen inzwischen mehr Wert auf persönliche Stärken wie etwa Teamgeist oder Analysefähigkeit und schauen nicht nur auf einen Abschluss.

 

CATERINE SCHWIERZ, 54, ist Mitglied der Geschäftsleitung der Personalberatung von Rundstedt.

 

ZEIT Campus: Gilt das für alle Jobs?

 

Schwierz: Grundsätzlich wandeln sich Berufsbilder heute sehr schnell. Vor zehn Jahren war das Smartphone eine Innovation, inzwischen ist App-Entwickler fast ein klassischer Beruf. Man arbeitet nicht mehr sein Leben lang in einem bestimmten Feld. Künftige Generationen werden ständig Neues lernen müssen, weil sich durch die Digitalisierung viel verändern wird. Zurzeit sind es jährlich nur drei Prozent der Erwerbstätigen, die ihren Beruf wechseln, bald wird es normal sein, sich alle zehn Jahre neu zu erfinden. Man kann erst im Rechnungswesen arbeiten und im nächsten Job für eine Firma Computerspiele entwickeln.

 

ZEIT Campus: Hat diese Entwicklung Einfluss auf die Ausbildung an Unis?

Schwierz: Vermutlich. Fähigkeiten werden wichtiger, die man nicht in einer Vorlesung lernen kann. Koordinieren, Eventualitäten abschätzen, Entscheidungen treffen oder auch verschiedene Interessen zusammenbringen zu können. Denn wichtige Entscheidungen in Firmen werden künftig immer öfter auch von Arbeitnehmern selbst gefordert.

ZEIT Campus: Kann man solche Fähigkeiten in einem Traineeship oder einem Volontariat lernen?

 

Schwierz: Das kann man nicht pauschal sagen. Jede Firma bietet etwas anderes an. Wenn man noch nicht genau weiß, was man werden will, ist das eine gute Idee. Einige Traineeships bereiten auf einen bestimmten Zweig vor, andere bieten Einblicke in viele Bereiche. So in den Job einzusteigen erhöht in jedem Fall die Chance, früh bei seinem Traum-Arbeitgeber zu landen. Aber man sollte klären, was man lernt. Sammelt man viele Erfahrungen und darf zum Beispiel ins Ausland gehen, kann man ein geringeres Einkommen in Kauf nehmen.

ZEIT Campus: Als Absolvent sehe ich oft nicht viel mehr als ein Stellenangebot und die Internetseite eines Unternehmens: Woran erkennt man eine gute Traineestelle?

Schwierz: Das kann man meistens erst nach dem Bewerbungsgespräch abschätzen. Wichtig ist, dass man dieses nutzt, um selbst Fragen zu stellen: Wie arbeiten Menschen zusammen? Wie sieht der Karriereweg des Gesprächspartners aus? Was sind für ihn die wichtigsten Eigenschaften des Unternehmens? Denn es ist die Unternehmenskultur, die für die Zufriedenheit entscheidend ist.

 

ZEIT Campus: Das kann man nach einem einstündigen Bewerbungsgespräch aber auch mal falsch einschätzen.

 

Schwierz: Wenn ich Bauchschmerzen mit den Werten im Unternehmen habe, sollte ich dort eher nicht anfangen. Wenn man nach zwei Wochen nicht gleich die tollsten Projekte übertragen bekommt, plädiere ich dafür, durchzuhalten und nach ein paar Monaten das Gespräch mit dem Vorgesetzten zu suchen.

 

ZEIT Campus: Wie kann man seine Fähigkeiten im neuen Arbeitsalltag demonstrieren?

Schwierz: Ich empfehle, in den ersten Wochen mit dem Vorgesetzten zu besprechen, welche Ziele man langfristig vor Augen hat, und im Anschluss entsprechendes Engagement zu zeigen. Bis man dann wirklich in der Position ist und seinen Traum verwirklichen kann, kann es aber auch mal eine Zeit dauern. MEHR

IST DAS DIE ZUKUNFT?

Wer programmieren kann, wird von Firmen umworben wie nie zuvor. Aber muss deshalb jeder Codezeilen schreiben? Was wirklich gefragt ist.

REPORTAGE – ZEIT CAMPUS 2/2017

Carina Mentrup arbeitet in der Messehalle 2 in Hannover an der Zukunft. Carina ist 29 und studiert Englisch und Geografie auf Lehramt. Zur Messehalle ist sie für einen Hackathon gefahren, eine Wortschöpfung aus "Hack" und "Marathon". Pizzakartons liegen auf dem Boden, es riecht nach Kaffee und kaltem Schweiß: Auch wenn es hier aussieht wie am Tag nach einer Party – gefeiert hat niemand. Einige Teilnehmer haben extra Visitenkarten gedruckt und suchen nach Kontakten und Jobs, andere wollen lieber in Ruhe basteln, experimentieren und bauen. Mentrup ist eine von knapp 100 Teilnehmern. In kleinen Teams von bis zu sechs Leuten wollen sie an diesem Wochenende Anfang Dezember virtuelle Welten erschaffen – sogenannte Virtual Realities, kurz VR – und brainstormen und programmieren.

 

Was hat Carina Mentrup, die angehende Lehrerin, auf einem Hackathon zu suchen? Stimmt schon: Wer jetzt in den Beruf einsteigt und etwas von IT versteht, hat gute Chancen. Kaum eine Gruppe umwerben viele Firmen derzeit so stark wie jene Absolventen, die Informatik studiert haben und sich für Apps und neue Technologien interessieren. Denn der IT-Markt wächst so schnell wie kaum eine andere Branche: Um neun Prozent ist die Zahl der sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplätze 2016 im Vergleich zum Vorjahr gestiegen, meldet die Bundesagentur für Arbeit in ihrer Studie "Arbeitsmarkt für Akademiker". Der Branchenverband Bitkom spricht sogar von einem Anstieg um fast 20 Prozent bei offenen Stellen im Vergleich zum Vorjahr.

Schon seit Jahren wird von der Digitalisierung gesprochen und wie sie Unternehmen verändert. Aber inzwischen sind damit nicht mehr nur Apple oder Google gemeint, sondern auch der deutsche Mittelstand. Heute brauchen nicht mehr nur große Soft- oder Hardware-Unternehmen Entwickler und Programmierer für neue Technologien, sondern fast jede Firma. Sogar viele Gärtnereien, zum Beispiel, haben eine Internetseite, viele Firmen brauchen eine App oder einen Onlineshop, um im Markt konkurrenzfähig zu bleiben.

 

Das soziale Netzwerk LinkedIn gab 2015 eine Studie in Auftrag, für die rund 300 Geschäftsführer und Personaler in Deutschland befragt wurden. Sie zeigte, dass das "Verständnis für Programmierung" eine der wichtigsten Kompetenzen von Arbeitnehmern ist, die auch in Zukunft noch an Bedeutung gewinnen wird.

Also gilt das auch für BWLer, Geisteswissenschaftler, Lehramtsstudentinnen wie Carina Mentrup? Muss jetzt jeder in seiner Freizeit mit YouTube-Tutorials programmieren lernen?

Auf dem Hackathon in Hannover bekommt man eine Ahnung vom Arbeitsmarkt der Zukunft. Zunächst bestätigt sich: Es gibt zurzeit viele Unternehmen, die Sorgen haben, geeignete Mitarbeiter zu finden. Daran verdienen Personaldienstleister wie etwa Young Targets. Und das macht Veranstaltungen wie diese überhaupt erst möglich: Die Berliner organisieren auch Hackathons und andere Events, zu denen sie IT-Interessierte einladen. Von den teilnehmenden Firmen lassen sie sich dafür bezahlen. Auch in der Messehalle in Hannover versuchen traditionelle Unternehmen wie die Deutsche Bahn oder der Energiekonzern Vattenfall zwischen ausgerollten Schlafsäcken und Laptops ihren Platz zu finden. Sie schicken Mitarbeiter und zahlen den Veranstaltern des Hackathons mehrere Tausend Euro dafür, dass auch sie ihre Projekte vorstellen und T-Shirts mit Firmenlogo verteilen dürfen. Sie wollen junge Talente finden, die am besten nicht nur Befehle in Programmiersprachen beherrschen, sondern digital denken und mit viel Spaß und wenig Schlaf Projekte entwickeln wollen. Carina Mentrup möchte für ihre Masterarbeit eine virtuelle Welt entwerfen. Schüler der Unterstufe sollen darin sehen und verstehen, welche Auswirkungen ein zu hoher Plastikkonsum hat – auf die Weltmeere und das Leben eines Fisches.

Sie schlägt also ein digitales Projekt vor, ohne selbst programmieren zu können. Und das ist hier auch gar nicht notwendig: Wie die anderen Teilnehmer hat Carina zu Beginn des Hackathons ihre Idee vor allen gepitcht. Für die VR-App zur Umweltbildung konnte sie fünf Teilnehmer gewinnen, die gemeinsam mit ihr versuchen, die Idee an diesem Wochenende umzusetzen. Da sind Daniel, Christian und Lukas, die ihr Geld als selbstständige Programmierer verdienen und einfach aus Spaß mitarbeiten. Da sind auch Joke, der Umweltingenieurwesen studiert, und Martin, der Medien- und Kommunikationswissenschaften studiert. Programmieren kann also nur die Hälfte der Gruppe, aber das scheint nicht wichtig, weil auch andere Fähigkeiten gebraucht werden: Einer muss das Team koordinieren und Ideen sammeln.

 

"Ich bin keine Technikexpertin", sagt Carina. Sie sei aber von neuen Technologien fasziniert und habe die Hoffnung, dass das Lernen mit Virtual Reality für Kinder manchmal spannender sei, als bloß Arbeitszettel im Unterricht auszufüllen. Manchmal habe sie sich an diesem Wochenende aber schon komisch gefühlt: Sie habe ja noch ein iPhone 4, sagt sie schmunzelnd.

Schon vor vier Jahren warb Barack Obama für die Hour of Code, eine NGO, die möglichst viele Menschen auf der Welt für Informatik und das Programmieren begeistern möchte. In Onlinekursen und Workshops können Kinder und Erwachsene coden lernen. In Deutschland gründeten Thomas Bendig, Geschäftsführer des Fraunhofer-Verbundes für Informations- und Kommunikationstechnologie, und Journalist Ranga Yogeshwar den Arbeitskreis "Jeder kann programmieren".

Im vergangenen Jahr fanden in Deutschland mehrere Dutzend Hackathons statt. Sogar das Bundesverkehrsministerium richtete Anfang Dezember einen solchen Wettbewerb aus. Der Slogan: "Unsere Daten. Deine Ideen." Der Deal: Die Programmierer und Entwickler haben Spaß und können Neues ausprobieren, Firmen können Ideen abgreifen und talentierte Studenten kennenlernen. In einem Beitrag von McKinsey heißt es, dass Hackathons die Möglichkeit bieten, den digitalen Wandel in großen Unternehmen und Organisationen zu beschleunigen.

 

Erst im Oktober vergangenen Jahres verabschiedete Bundesbildungsministerin Johanna Wanka den sogenannten Digital-Pakt: Damit sollen in den kommenden fünf Jahren fünf Milliarden Euro in die digitale Ausstattung von Schulen gesteckt werden. Das Ziel: Kinder sollen das Programmieren bereits im Unterricht in der Grundschule lernen wie Lesen, Schreiben und Rechnen.

 

Carina Mentrup wünscht sich, dass die Technikbegeisterung die Kinder beim Lernen motiviert. "Das ist ein wichtiger Schritt, die Schüler auf die digitalisierte Zukunft vorzubereiten", sagt sie.

In den Messehallen blickt Carina einem Programmierer prüfend über die Schulter. Während sie sonst in Vorlesungen sitzt, arbeitet sie in Hannover an der Optimierung einer virtuellen Welt. "Kannst du mehr Verpackungsmüll auf den Küchentisch legen?", fragt sie. Mit ein paar Klicks und Codes erscheinen Plastiktüten und Folien auf dem Bildschirm.

Am Nachbartisch: Mitarbeiter des Energiekonzerns Vattenfall. Das Unternehmen hat die App "Smart Home" für die Steuerung von Licht, Heizung oder einer Überwachungsanlage entwickelt, die mit speziellen Geräten mit dem WLAN verbunden werden können. Mit einem Team aus Designern und Programmierern möchte Vattenfall einen VR-Film entwickeln. "Der Film hilft dabei, Technik für Konsumenten emotional erfahrbar zu machen", sagt Ivan Polunic, Produktmanager bei Vattenfall. Das heißt: Wer als potenzieller Vattenfall-Kunde eine VR-Brille aufsetzt und sieht, wie man ein Haus vor Einbrechern schützen kann, soll dadurch lernen, wie hilfreich solche Entwicklungen sein könnten. Das wirke stärker als jedes Werbeposter, sagt Polunic und hofft, dass VR-Werbung die Wahrscheinlichkeit für einen Kauf erhöht. Auch er möchte wie Carina Mentrup am Ende des Hackathons mit einem fertigen Produkt zurück in sein Büro fahren – und mit einen Stapel Visitenkarten.

 

Unternehmen suchen Mitarbeiter, die sich mit dem "Internet der Dinge" auskennen – darauf deutet eine Studie des IT-Beratungsunternehmens Capgemini von 2015 hin, für die 153 Firmen befragt wurden. Gesucht werden also Leute, die sich mit einer internetfähigen Waschmaschine auskennen oder App-Ideen für mobile Geräte entwickeln können. Und Leute wie Carina Mentrup, die eher auf Nutzbarkeit achten und Einfälle aus einem anderen Berufsfeld mitbringen.

Enzo Weber, Forschungsbereichsleiter am Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung in Nürnberg, ist davon überzeugt, dass es Mitarbeiter braucht, die beide Welten verstehen: "Davon auszugehen, dass Hochschulabsolventen nur noch einen Job bekommen, wenn sie programmieren können, ist übertrieben", sagt er. Für die Studie "Wirtschaft 4.0 und die Folgen für Arbeitsmarkt und Ökonomie" hat er analysiert, welche Arbeitsplätze in Zukunft wegfallen und welche neu entstehen werden. "Nicht jeder muss coden können", sagt Weber, "aber jeder sollte verstehen, wie der eigene Beitrag mit der gesamten Wertschöpfung über Computersysteme verknüpft ist."

 

Einige Wochen nach dem Hackathon in Hannover hat Carina Mentrup zwar beschlossen, ihre Masterarbeit noch fertig zu schreiben, aber unmittelbar danach als Referendarin an einer Schule unterrichten möchte sie nicht. Stattdessen hat sie jetzt ein neues Ziel: Sie will sich selbstständig machen, ihre Fähigkeiten nutzen und ein Büro für die Entwicklung von VR-Apps gründen, die Kindern und Jugendlichen im Unterricht beim Lernen helfen. Am Businessplan schreibt sie gerade. MEHR 

APPS FÜR ALLES

Der Alltag wird digital. Wie verändert sich die Berufswelt? Sieben Fragen an die Zukunft

ANALYSE – ZEIT CAMPUS 2/2017

GEHT BALD NIEMAND MEHR IN DIE MUSEEN?

Van Goghs gezwirbelter Schnurrbart im Selbstbildnis mit Pfeife, die klobigen Füße von Cézannes Die große Badende – wer sich künftig in malerischen Details verlieren möchte, muss nicht mehr ins Van Gogh Museum nach Amsterdam fahren oder ins MoMa nach New York. Werke aus mehr als 1.000 Museen und Archiven sind in Googles Arts+Culture-Projekt zu sehen. Klick, klick, zoom: Wie anmutig der Schnurrbart das Licht reflektiert! Auch Kunsthistoriker sehen in der Digitalisierung große Chancen – mit Algorithmen könnten Kunstfälscher leichter enttarnt werden. Andererseits könnten Computer neue Bilder im Stil berühmter Maler errechnen. Barockkunst aus dem 3-D-Drucker klingt nach Science-Fiction, gibt es aber schon längst, zum Beispiel das Projekt "der nächste Rembrandt". Auch deshalb meint Georg Schelbert, Kunsthistoriker von der HU Berlin: "Wir müssen uns künftig mit Programmierern zusammensetzen und verstehen, wie diese arbeiten."

KANN MAN DEMNÄCHST AUF DEM SOFA VERREISEN?

Flüge, Hostels, Mietroller – kann man alles online buchen, klar, doch oft bleibt unklar, ob alles so schick aussieht wie auf den Werbefotos. Bald soll man deshalb vor der Buchung mit Virtual-Reality-Brillen prüfen können, ob das Hotelzimmer auf Mauritius tatsächlich so einen bombastischen Meerblick hat. Oder ob die Kreuzfahrtschiffe von Aida wirklich größere Pools haben als die von Costa. "Auch virtuelle Reisen in Fantasiewelten werden zunehmen", sagt Miriam Taenzer, Referentin für Touristik beim Digitalverband Bitkom. Wer eine VR-Brille besitze, könne dann günstig und sonnenbrandfrei die Welt erkunden. Auch Orte, die sonst schwer zugänglich oder gefährlich sind: etwa die Arktis, die Wüste Gobi, den Mount Everest.

PRODUZIEREN MASCHINEN SCHON VON SELBST?

Die sogenannte Industrie 4.0 will alle Maschinen mit dem Internet verbinden. Das wird grundlegend verändern, wie Tabletten, Salami-Pizzen, Hautcremes oder Radkappen in Zukunft produziert werden. Reale und virtuelle Welt verschmelzen. Ein Produktionsleiter kann so auch ein paar Tausend Kilometer entfernt am Strand in der Hängematte liegen, während er in Bottrop das Fließband steuert. Und sehen, ob noch alle Bauteile da sind oder warum eine Maschine gerade spinnt. Intelligente Systeme könnten bald auch automatisch die Produktion hochfahren, wenn bei einer Grippewelle viele Leute nach Hustensaft oder Taschentüchern googeln.

 

MUSS MAN NOCH ZUM BÜRGERAMT GEHEN?

Die Verwaltung hat die Zukunft ausgerufen, das Innenministerium verkündete im vergangenen Dezember: "Die deutsche Verwaltung kommt im 21. Jahrhundert an und wird digital." Sich am neuen Wohnsitz anmelden, Kindergeld beantragen oder den Reisepass verlängern – das alles soll bald mit wenigen Klicks besser, schneller und einfacher gehen. Der Bund arbeitet an einem Verwaltungsportal, das Bürgern den einheitlichen Zugang zu Verwaltungsleistungen aller Länder und Kommunen ermöglicht. "Zu einem guten Teil könnten besonders einfache Tätigkeiten der Verwaltungsmitarbeiter bald wegfallen", sagt Mario Martini, Professor für Verwaltungswissenschaften an der Universität Speyer.

WIE VERÄNDERT BIG DATA DIE FORSCHUNG?

Mit Hochleistungsrechnern können Millionen Studien zu einem Thema in wenigen Minuten analysiert werden. Sie erkennen Muster, wo der Mensch keine sieht oder ewig dafür brauchen würde. Das verändert die Wissenschaft. Watson, die künstliche Intelligenz von IBM, diagnostizierte bei einer Patientin eine seltene Form von Krebs, die Ärzte der Universität Tokio vorher nicht feststellen konnten. Watson hatte ihre Gendaten mit denen von 20 Millionen anderen Krebspatienten verglichen. Auch in Natur- und Geisteswissenschaften kann man aus Datenbergen Erkenntnisse ziehen. So haben Forscher etwa herausgefunden, dass Homer sich die komplexe Geografie der Schiffsreise der Ilias mit einer mentalen Reiseroute merkte.

 

MÜSSEN KRANKE NICHT MEHR ZUM ARZT?

Den Hautausschlag oder den Leberfleck, der so verdächtig aussieht, fotografieren und seinem Hautarzt mailen – das dürfte in Zukunft normal sein, sagt Julia Hagen, Referentin Health und Pharma beim Digitalverband Bitkom. Auch für chronisch Kranke könnten Apps eine Hilfe sein, etwa weil sie daran erinnern, wann Medikamente eingenommen werden müssen. Auch smarte Geräte könnten das Leben mit Krankheiten leichter machen. So gibt es bereits eine Uhr, die die Glukosekonzentration bei Diabetes-Patienten misst und Daten über den Blutzuckerspiegel in einer App verwaltet. Mediziner werden den Umgang mit einer Fülle an Informationen, die etwa in Apps gesammelt werden, lernen müssen und anders kommunizieren, denn die Digitalisierung schaffe mündigere Patienten, sagt Hagen.

KAUFT IN ZUKUNFT KEINER MEHR NEUE AUTOS?

Laut einer Prognose der Beratung Frost & Sullivan werden bis 2020 fast 15 Millionen Europäer Carsharing nutzen. Vor fünf Jahren waren es noch nicht mal eine Million. BMW, Opel und Daimler stellen längst nicht mehr nur Autos her. Sie eröffnen Plattformen, auf denen sie "Mobilität" anbieten – etwa Moovel von Daimler. My Taxi, Car2Go oder die Deutsche Bahn können über diese App gebucht und bezahlt werden. Vor allem im Marketing und Vertrieb würde die Digitalisierung die Branche verändern, ergab eine Studie des Digital-Beraters Accenture. Die Analyse von großen Datenmengen eröffnet neue Möglichkeiten: Wie sieht das Traumauto eines Kunden aus? Und werden wir vielleicht doch eines Tages wieder mehr Autos kaufen? Solche Fragen könnten geklärt werden. Künstliche Intelligenz ermöglicht auch autonomes Fahren: Lkw, Busse oder Autos – bald könnten sie ohne Fahrer durch den Feierabendverkehr kommen. An den Schnittstellen zwischen Apps und klassischem Autobau werden Ingenieure gebraucht, die auch etwas von IT verstehen. MEHR

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